Impfstoff statt „Künstliches ökonomisches Koma“ - Die Leistungsfähigkeit der Deutschen Industrie gemeinsam unter Beweis stellen
Essay von Oliver Hermes
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit großer Sorge ist die jüngst, vorwiegend in der Politik, im Kampf gegen die Corona-Pandemie entbrannte Debatte über weiter einschränkende Maßnahmen für die gesamte deutsche Wirtschaft wahrzunehmen.
Ein vollumfänglicher Wirtschafts-Lockdown würde hierbei ganz gewiss einen nachhaltigen makroökonomischen und sozialen Schaden anrichten. Dies nicht nur in Deutschland, sondern auch durch die miteinander eng verwobenen Wertschöpfungsketten mindestens innerhalb der Europäischen Union.
Allein die Debatte selbst hierzu, führt bereits zu mikroökonomischen Reflexen, die eine negative Auswirkung auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland bzw. innerhalb der EU haben könnten.
Denn die Unternehmen als Wirtschaftssubjekte verhalten sich allzu häufig ähnlich wie Privathaushalte. Die bloßen Aussagen einiger Politiker, die sich für einen kompletten Lockdown aussprechen, führen zu einer weiteren Verunsicherung auf den Gütermärkten. Langfristig orientierte Beschaffungs-Strategien fallen einer kurzfristigen Beschaffungs-Taktik der Unternehmen zum Opfer. Kritische Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe sowie halbfertige Produkte und wichtige Komponenten werden in Antizipation eines Wirtschafts-Lockdowns „gehamstert“ - ähnlich wie Toilettenpapier.
Die Wertschöpfungsketten der deutschen Wirtschaft und der EU werden durch die gegenwärtigen Diskussionen einmal mehr durcheinandergewirbelt, was schon für sich genommen die Verunsicherung auf den Gütermärkten europaweit beschleunigen wird.
Sollte es dann tatsächlich zu einem kompletten Lockdown kommen, sind die Konsequenzen klar zu erkennen. Die deutsche und die europäische Wirtschaft werden in eine tiefere Rezession schlittern und weitere Arbeitsplatz- und Wohlstandsverluste sowie soziale Verwerfungen sind vorprogrammiert.
Sollte die deutsche Wirtschaft komplett und mit Ansage für einen (ungewissen) Zeitraum herunterfahren müssen, werden beispielsweise auch diejenigen Unternehmen Kurzarbeit beantragen, die sich bis jetzt im Sinne ihrer Mitarbeiter sozial-verantwortlich zurückgehalten haben. Viele gut vorbereitete Unternehmen haben bereits ihre diesbezüglichen Betriebsvereinbarungen aus 2020 in der Schublade und würden diese nun in 2021 herausziehen. Darüber hinaus wird es erhebliche Diskussionen darum geben, welche Unternehmen als systemrelevant zur Aufrechterhaltung kritischer Infrastrukturen qualifizieren und welche schließen müssten. Systemrelevante Unternehmen könnten wiederum ihrer Verantwortung nicht nachkommen, wenn deren Lieferanten Lockdown-bedingt schließen müssten und dadurch nicht lieferfähig wären. In diesem Fall bestünde das Risiko, dass kritische Infrastrukturen unter Umständen nicht aufrechtzuerhalten sind.
Die Abfederung der gesamtwirtschaftlichen und sozialen Schäden würde auf Ebene des Staates fremdfinanziert und die unfassbar hohe Verschuldung einiger EU-Mitgliedsstaaten, auch Deutschlands, würde weiter exponentiell steigen. Die Lasten hieraus wären dann durch künftige Generationen zu tragen.
Die realwirtschaftlichen Verwerfungen münden mit großer Wahrscheinlichkeit in eine finanzwirtschaftliche Krise. Drohende Unternehmens-Insolvenzen führen zwangsläufig durch potenzielle Forderungsausfälle zu einer Belastungsprobe für den Bankensektor. Von der Pandemie geschüttelte Unternehmen müssen zwar derzeit rechtlich gesehen keinen Insolvenzantrag stellen, doch das bewahrt sie schließlich nicht vor einer reellen Zahlungsunfähigkeit.
War die Bankenkrise der Jahre 2008/2009 noch durch die Finanzwirtschaft selbst induziert, so hat sie in der Folge zu einer realwirtschaftlichen Krise und damit zu einer gesamtwirtschaftlichen Rezession geführt.
Die Corona-Krise der Jahre 2020/2021 kann in der Folge zu einer Finanz- und Bankenkrise mutieren. Anders als in den Vorjahren, ist jetzt der Auslöser die arg gebeutelte Realwirtschaft. Finanzwirtschaftliche und realwirtschaftliche Effekte folgen aufeinander und eine kurzfristige gesamtwirtschaftliche Erholung wird somit deutlich erschwert. Man braucht nicht Volkswirtschaft studiert zu haben, um die Zusammenhänge eines kompletten Lockdowns der Wirtschaft zu erkennen. Ein Herunterfahren der Wirtschaft - das Versetzen in ein „Künstliches Koma“ - würde sicherlich in einer länger anhaltenden, ökonomischen Depression resultieren.
Nicht absehbar und schwieriger zu bewerten ist dagegen, ob ein vollumfänglicher Wirtschafts-Lockdown tatsächlich effektiv sein wird, um die Inzidenzwerte zu reduzieren. Hierzu gibt es allenfalls widersprüchliche Daten und Auswertungen.
Eine Vielzahl von Unternehmen setzt Hygiene- und Homeoffice-Konzepte vorbildlich um und geht in der Umsetzung von Pandemie-Vorschriften über das gesetzlich Erforderliche hinaus. Die jeweiligen Konzepte der Unternehmen sind hierbei klüger ausgearbeitet als dies noch im Rahmen der ersten Welle im Frühjahr 2020 der Fall war.
Seitens der politischen Verantwortlichen ist es richtig, darauf zu achten, dass nach Möglichkeit „Homeoffice“ praktiziert wird. Gut geführte Unternehmen schicken ihre Büro- und Verwaltungsmitarbeiter ohnehin zur Arbeit nach Hause. Es ist aber nun einmal insbesondere in Deutschland als Rahmenbedingung gegeben, dass ein großer Teil der wirtschaftlichen Leistungskraft aus dem produzierenden, dem verarbeitenden Gewerbe stammt. Deutschland ist glücklicherweise immer noch eine Industrienation, folglich kann ein bedeutender Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht von zu Hause arbeiten - dieser Umstand kommt in der gegenwärtigen politischen Diskussion leider an einigen Stellen häufig zu kurz.
Aus diesem Grund haben Unternehmen des produzierenden Gewerbes sehr hohe Hygienestandards bezüglich ihrer Produktions- und Logistikprozesse umgesetzt und beispielsweise Schichten entzerrt. Sie haben dem gegenwärtigen digitalen Zeitalter entsprechend, teilweise hohe Investitionen in elektronische Technologien zur Einhaltung der Mindestabstände und in Software zur Nachvollziehung von Infektionsketten getätigt. Dies um so im Fall der Fälle gezielte Maßnahmen einleiten und den Arbeitsschutz kontinuierlich weiter optimieren zu können.
Natürlich treffen die Bemühungen und Investitionen den größtmöglichen gesundheitlichen Schutz für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie für Kunden und Lieferanten zu gewährleisten, auch auf bereits heruntergefahrene Wirtschaftszweige zu. Der Einzelhandel, der Tourismus, die Gastronomie und nicht zu vergessen die Kulturschaffenden leiden jetzt schon seit November 2020 unter den gegenwärtigen Lockdown-Vorschriften. Jedoch den kompletten Lockdown der Wirtschaft aus einem Solidaritäts- und Gerechtigkeitsempfinden mit diesen benachteiligten Wirtschaftszweigen zu postulieren, führt in eine Sackgasse. Denn jeder einzelne Wirtschaftszweig benötigt in der Zukunft zahlungskräftige und solvente Kunden.
Es ist Aufgabe der politischen Mandatsträger, eine schwierige und gewichtete Abwägung zwischen dem Schutz der Gesundheit und den wirtschaftlich-sozialen Bedürfnissen sowie den berechtigten Wohlstandsansprüchen der Bevölkerung vorzunehmen.
Einen Ausweg aus diesem politisch-ethisch-ökonomischen Dilemma, sollte jedoch eine konsequent und beschleunigt umgesetzte Impfstrategie bieten:
Wurde im Sommer 2020 nach der ersten Pandemie-Welle eine erste Impfstrategie formuliert, so hat es seitdem mindestens eine eklatante Veränderung der Parameter für diese Strategie gegeben. Das Corona-Virus ist nämlich zwischenzeitlich erschreckenderweise derart mutiert, dass es infektiöser ist. Dies erfordert nun zwingendermaßen eine „Mutation“ der Impfstrategie. Die Impfstrategie muss also revidiert, verbessert und vor allen Dingen mit deutlich mehr Tempo umgesetzt werden.
Es bedarf eines nationalen Kraftaktes die Ausbringung der Impfstoff-Produktion dramatisch zu erhöhen. Hierzu ist ein Schulterschluss innerhalb der deutschen pharmazeutischen Industrie notwendig. Der deutschen Wirtschaft ist es schließlich gelungen, den ersten Impfstoff zu entwickeln, der sowohl von der US-amerikanischen als auch von der europäischen Gesundheitsbehörde freigegeben wurde.
Dies ist ein großartiger Erfolg, der Mut machen sollte, nun in einem weiteren Schritt die hervorragende Leistungsfähigkeit der deutschen pharmazeutischen Industrie einmal mehr unter Beweis zu stellen und alles wirtschaftlich, rechtlich, politisch und technologisch Notwendige zu unternehmen, damit schneller geimpft werden kann.
Ein solcher nationaler Kraftakt wäre dann auch nicht als „Impfnationalismus“ qualifizierbar, da die schneller verfügbaren „Mehrmengen“ schließlich den globalen Impfstoffmarkt angebotsseitig entlasten würden. Neben der Allianz zur beschleunigten Herstellung von Impfstoffen, stünde die deutsche Industrie sicherlich auch parat für eine effiziente und zügige Verteilung der Produkte.
Schließlich könnte das beschriebene politisch-ethisch-ökonomische Dilemma auf diese Weise gemeinsam mit den Sozialpartnern gelöst werden. Das Land könnte am Laufen gehalten, die Sozialsysteme durch fortgesetzte Wertschöpfung gestützt und ein weltweiter Beitrag zur Pandemiebekämpfung und zu Gunsten der Gesundheit der Menschen geleistet werden. Die Kosten der Umsetzung einer intelligenteren Impfstrategie sind im Vergleich zu den Kosten und dem Schaden eines kompletten wirtschaftlichen Lockdowns ganz gewiss homöopathisch.
Je schneller wir aus den Pandemiezeiten herauskommen, desto eher werden wir dann in der Lage sein durch die Pandemie verzögerte, aber bitter notwendige Strukturwandel vollziehen zu können, um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft im digitalen und ökologischen Zeitalter zu gewährleisten.
Mit freundlichen Grüßen
Oliver Hermes
Vorstandsvorsitzender & CEO der Wilo Gruppe
Vorsitzender des Kuratoriums der Wilo-Foundation