Prof. Dr. Alexander Sandkamp: „Wir müssen diversifizieren, nicht abschotten“
Mit der Corona-Pandemie und dem russischen Überfall auf die Ukraine trafen die Weltwirtschaft zwei Krisen in kürzester Zeit. Welche geopolitischen Folgen sie haben, was die Entkopplung von Wertschöpfungsketten für die Weltwirtschaft bedeutet und wie Politik und Unternehmen nun antworten können, erklärt der Ökonom Prof. Dr. Alexander Sandkamp im Interview.
Dieser Text ist Bestandteil des Wilo-Geschäftsberichts 2022.
Herr Professor Sandkamp, zusammen mit Kollegen haben Sie jüngst in gleich mehreren Studien untersucht, welche Folgen es hätte, wenn sich Staaten oder Staatengemeinschaften wirtschaftlich voneinander entkoppeln würden. Wie sind Sie vorgegangen?
Wir haben für unseren Studien untersucht, wie sich eine Rückverlagerung von Wertschöpfung auf den Handel und das Realeinkommen auswirken würde. Das lässt sich mit einer Erhöhung von Handelsbarrieren simulieren. Im Simulationsmodell des Kiel Institutes haben wir zum Beispiel eine Verdopplung der europäischen Handelsbarrieren gegenüber China durchgespielt.
Mit welchem Ergebnis?
Durch die Abschottung bricht der Handel ein. Der europäische Markt bezieht zahlreiche Vorprodukte aus China, weil die Produktion dort günstiger ist. Andererseits exportiert Europa auch viele Güter nach China. Die Reduktion des Handels schlägt sich in Europa und China im Einkommen nieder: In der EU sinkt es im Schnitt um 0,8 Prozent, in Deutschland sogar um ein Prozent. China verzeichnet einen Rückgang um 0,9 Prozent. Dies ist ein permanenter Effekt, das Einkommen ist also dauerhaft niedriger als in einer Welt ohne zusätzliche Barrieren.
Dieses Szenario – eine harte Abkopplung von EU und China – ist fiktiv. Doch auch in der Realität entflechten sich globale Wertschöpfungsketten mehr und mehr. Welchen Einfluss hatte die Corona-Pandemie auf diese Entwicklung, welchen der russische Überfall auf die Ukraine?
Beide Krisen haben sich potenziert und die Decoupling-Tendenzen weltweit eindeutig verschärft. Wir spürten zunächst nur die unmittelbaren Auswirkungen: Hafenschließungen und Lockdowns haben während der Pandemie die Lieferketten durcheinandergewirbelt, durch den Überfall auf die Ukraine brach plötzlich der Handel mit Russland ein, weshalb bestimmte Waren schlechter lieferbar waren. Das sind die direkten Auswirkungen der Krisen. Langfristig sind die indirekten Folgen aber viel besorgniserregender: die politischen Schlüsse, die aus den Krisen gezogen werden.
Welche politischen Schlüsse meinen Sie?
Ich halte den zunehmenden Protektionismus für gefährlich. Der Globalisierungsgedanke hat es derzeit schwer. Wir erleben viel mehr einen starken De-Globalisierungsschub, weil Länder sich auf sich selbst besinnen, um sich so vermeintlich krisenfester zu machen. Das ist erstens problematisch, weil eine Rückverlagerung der Wertschöpfung in die heimische Wirtschaft das Einkommen gefährdet – das hat unsere Studie gezeigt. Und es ist zweitens problematisch, weil die Sicherheit trügerisch ist.
Wieso? Die Idee leuchtet schließlich ein: Wer die Wertschöpfungsketten wieder im eigenen Land hat, hat sie im Griff.
Wertschöpfungsketten zurückzuholen, bedeutet nicht unbedingt, sie im Griff zu haben. Denn was ist, wenn die Krise einen selbst trifft? Nehmen wir wieder das Beispiel Europa. Wäre die EU weitestgehend vom Rest der Welt abgekoppelt, hätten die Ausfälle in der europäischen Düngemittelproduktion durch die Gasknappheit im vergangenen Jahr wohl gravierendere Auswirkungen auf die Nahrungsmittelversorgung in der EU gehabt. Denn es hätte weniger Möglichkeiten gegeben, den Wegfall durch Düngerimporte zu ersetzen. Handel ist immer auch eine Art Versicherung. Wenn ich in der Krise nicht mehr selbst produzieren kann, importiere ich. Diese Versicherung nehmen wir uns, wenn wir versuchen, uns vollkommen autark zu machen.
„Wertschöpfungsketten zurückzuholen, bedeutet nicht unbedingt, sie im Griff zu haben.“
Sie sehen im Decoupling also eine Gefahr. Aber birgt diese Entwicklung nicht auch Chancen?
Ja, ich sehe im politischen Decoupling große Risiken für den Wohlstand. Aber natürlich gibt es auch Gewinner. Branchen und Unternehmen im Land, die plötzlich nicht mehr mit günstigeren Mitbewerbern im Ausland konkurrieren, würden von der Abschottung profitieren. Außerdem würden einige Länder untereinander sicherlich enger zusammenrücken, zum Beispiel europäische Länder bei einer Entkopplung der EU vom Rest der Welt. Die Nachteile überwiegen in meinen Augen allerdings. Wir sprechen nicht nur von ökonomischen Folgen, also Einkommenseffekten, sondern auch von politischen Folgen. Ein realistisches Szenario für die Zukunft ist in meinen Augen eine Entkopplung von Ost und West. China und Russland, vielleicht auch Indien stünden dann als Gegenpol zum Westen, also vor allem den USA und Europa. Das birgt natürlich die Gefahr, dass die politischen Rivalen in Ost und West nicht mehr miteinander sprechen. Sie werden sich ohne Handelsbeziehungen noch fremder. Das hat der Welt in der Vergangenheit noch nie gutgetan.
Ein Gegenargument wäre: Der Handel mit Russland hat uns nicht vor dem Ukraine-Krieg bewahrt.
Das stimmt. Russland hat die Ukraine überfallen – trotz des Handels mit der ganzen Welt. Aber wir wissen nicht, was gewesen wäre, wenn wir keine Wirtschaftsbeziehungen zu Russland unterhalten hätten. Ich bin immer noch der Meinung, dass eine wirtschaftliche Verflechtung von Ländern trotzdem grundsätzlich sinnvoll ist, weil sie die Konflikt- und Kriegsgefahr reduziert, wenn auch leider nicht vollkommen eliminiert. Wozu es nicht kommen darf, sind einseitige Abhängigkeiten. Aber beidseitige Abhängigkeiten sind bis zu einem gewissen Grad gut.
Wie lässt sich Decoupling denn entgegenarbeiten?
Die Gegenmaßnahmen liegen in der Hand von Politik und Wirtschaft. Ich kann verstehen, dass Regierungen und Unternehmen nicht erpressbar von einzelnen Ländern sein wollen. Bloß kann man darauf unterschiedlich reagieren. Einerseits mit Abschottung: Die Politik kann die Investitionen von Unternehmen in diesen Ländern, etwa durch reduzierte Investitionsschutzgarantien, unattraktiv machen. Andererseits können wir den Handel mit anderen Ländern attraktiv machen, zum Beispiel durch höhere Investitionsschutzgarantien oder mehr Freihandelsabkommen. Um uns tatsächlich krisenresilienter aufzustellen, sollten wir kreativer werden. Wir müssen diversifizieren, nicht abschotten.
Die Wilo-Antwort auf Decoupling ist schon seit Jahren der „region-for-region“-Ansatz. Regionale Kundenbedürfnisse werden mit regional hergestellten Produkten bedient. Ist Wilo damit auf dem richtigen Weg?
Der Ansatz ist nachvollziehbar. Global-agierende Unternehmen müssen ihre Strategie natürlich an der Fragmentierung unserer Weltwirtschaft ausrichten. Angesichts zunehmender Handelsbeschränkungen kann es für Unternehmen besser sein, regional zu produzieren und regional zu bedienen. Die gesamtwirtschaftlichen Folgen dieser Diversifizierung können wir noch nicht absehen, aber aus unternehmerischer Sicht ist dieses Vorgehen sicherlich sinnvoll.
Zur Person
Prof. Dr. Alexander Sandkamp forscht am Institut für Volkswirtschaftslehre der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit dem Schwerpunkt Quantitative Außenhandelsforschung. Außerdem ist er Mitglied des Forschungszentrums Handelspolitik des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, das handelspolitische Fragen von strategischer und aktueller Relevanz untersucht.
Das Interview wurde am 16. November 2022 geführt.