Die Antwort auf Decoupling heißt mehr Entrepreneurship
Mehr und mehr geraten deutsche und europäische Unternehmen zwischen die Fronten geopolitischer Auseinandersetzungen. Dadurch wird die Weltwirtschaft in ihrer Entwicklung deutlich gehemmt. Sie wird in Zukunft leider noch mehr als vor der Pandemie von Autarkiebestrebungen und Protektionismus bestimmt sein.
Wie sich schon jetzt zeigt, wird die Wahl von Joe Biden zum Präsidenten der USA daran nichts ändern. Im Gegenteil, wir erleben eine „Globalisierung 2.0“ und müssen uns als Unternehmen mit den Auswirkungen dieses Megatrends jetzt strategisch beschäftigen.
Denn die Unternehmen und ihre wertvollen, über Jahrzehnte aufgebauten außenwirtschaftlichen Beziehungen, werden nun allzu häufig von der Außenpolitik als Instrument eingesetzt, um geostrategischen Systemwettbewerb zu betreiben. „Globalisierung 2.0“ als Konsequenz, bedeutet mindestens eine Entzerrung der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung bis hin zu einer „Rolle rückwärts“ - was auch manchmal schon als De-Globalisierung bezeichnet wird.
Das weltwirtschaftliche Schreckgespenst des „Decoupling“ geistert über die Kontinente und wird häufig fälschlicherweise positiv beladen. Eine Entkopplung von Märkten solle vor allem kritische Infrastrukturen in einzelnen Regionen schützen, territoriale Souveränität garantieren und damit Wohlstand sichern.
„Decoupling ist der Gegenentwurf zu Multilaterismus.“
In all seinen Ausprägungen bedeutet „Decoupling“, dass multinationale Kooperationen stärker abnehmen, Allianzen bröckeln, wirtschaftliche Brücken zwischen Staaten und damit auch politisch unterschiedlichen Systemen eingerissen werden. Der größte Verlierer hierbei wäreneuropäische Unternehmen.
Das Geschäftsmodell der EU, vor allem das der Bundesrepublik Deutschland und dadurch unser aller Wohlstand, basieren auf Multilaterismus. Wir Unternehmer müssen uns dennoch jetzt in Deutschland auf die unterschiedlichen Formen des grassierenden„Decoupling“ vorbereiten und ihm mit vorausschauendem Entrepreneurship strategisch entgegentreten.
Die deutsche Wirtschaft ist im höchsten Maße in global funktionierende Wertschöpfungsketten eingebunden. Sie muss sich jetzt neu sortieren. In Deutschland hängt immerhin jeder vierte Arbeitsplatz am Export, in der Industrie sogar jeder zweite. Die Europäische Union tätigt und empfängt laut DIHK weltweit die meisten Auslandsinvestitionen und ist der wichtigste Wirtschaftspartner von über 80 Ländern. Es ist daher unsere unternehmerische Verantwortung, den politischen Eliten vor allem innerhalb der EU, aber auch weltweit klarzumachen, dass die Etablierung und Entwicklung von Wertschöpfungsketten die ureigenste Aufgabe der Wirtschaft selbst ist.
Wertschöpfungsketten dürfen nicht zum Spielball der Politik werden
Sie können nicht von heute auf morgen abgeschaltet, verändert oder neu aufgeteilt werden. Von einer entsprechenden Regulierung sollten die Staaten Abstand nehmen und nur in Ausnahmefällen davon Gebrauch machen. Natürlich gilt auch für die Wirtschaft insbesondere im Hinblick auf nationale oder regionale Sicherheitsfragen das Primat der Politik. Eine Bestimmung jedoch, was ein Ausnahmefall ist und welche Wirtschaftssegmente als kritisch einzustufen sind, sollte nicht leichtfertig zu weit gefasst sein.
Die globale Machtkonkurrenz zwischen den USA und China ist der zentrale geostrategische Konflikt. Vor wenigen Tagen haben die EU-Außenminister zusammen mit den USA das erste Mal seit 1989 Sanktionen gegenüber China verhängt. Chinesische Gegensanktionen folgten sogleich. Der Starteiner Sanktionsspirale belastet zunehmend die außenwirtschaftlichen Beziehungen und hat unmittelbare Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft.
Handelssanktionen, extra-territoriale Sanktionen, Technologieembargos und eine aus politischen Gründen eingeleitete Entkopplung von Lieferketten haben verheerende Folgen für die hyperglobalisierte Weltwirtschaft und gerade für Europas Unternehmen.
Das „Decoupling“ hat mindestens drei Ausprägungen
Die geographische Dimension des „Decoupling“ beschreibt erstens die jeweiligen regionalen Auswirkungen aus Abschottung und Entkopplung.
Die technologische Dimension beinhaltet zweitens das Phänomen, dass in unterschiedlichen Märkten jeweils andere Standards für Produkte, Systeme und Lösungen gelten könnten. Dies gilt vor allem für smarte und intelligente Produkte, bei deren Nutzung Daten de facto oder potenziell ausgetauscht werden. Die dritte Dimension beschreibt die finanzwirtschaftliche Entkopplung als Abbau der Abhängigkeiten von globalen Finanz- und Kapitalmärkten, Währungs- und Zahlungssystemen.
Unternehmen sollten regional intelligent diversifizieren und investieren
Einen Ausweg aus dem geographischen „Decoupling“-Dilemma stellen für Unternehmen regionale Investitionen dar. Diese sollten forciert werden. Anstelle sich aus einzelnen Regionen zurückzuziehen und „Near Shoring“ oder „Re-Shoring“ zu betreiben, sollten Global Player eine beschleunigte Regionalisierung ihrer Aktivitäten vornehmen.
Dies bedeutet, die eigenen Wertschöpfungsketten des Unternehmens zu diversifizieren und regional zu stärken. Eine unternehmerische Stärkung regionaler Wertschöpfungsketten bedeutet gleichzeitig, mehr Verantwortung aus zentralen organisatorischen Funktionsbereichen in lokale Einheiten zu verlagern. Diese Übergabe von Verantwortung wiederum stärkt Entrepreneurship vor Ort.
Der Versuch vor allem der USA, China geo-ökonomisch zu isolieren, ist schon jetzt gescheitert. In Asien wurde Ende letzten Jahres, das weltweit größte Freihandelsabkommen (RCEP) mit 14 Asien-Pazifik-Staaten abgeschlossen. Das RCEP stellt mit seinen 2,2 Milliarden Einwohnern ein wirtschaftliches Kraftzentrum dar, das fast 30 Prozent der globale Wirtschaftsleistung generiert.
Es klingt paradox, aber der vorerst gescheiterte Versuch der USA, China zu isolieren, mündet über das panasiatische Integrationsprojekt RCEP und somit in eine stärkere Entkopplung der USA von Asien. Zukünftig werdenin Asien große neue regionale Ökosysteme und Wertschöpfungsketten etabliert, aber mit weniger Einfluss der USA und Europas. Es ist unbedingt notwendig, dass europäische Unternehmen und insbesondere die deutsche Wirtschaft „am Ball bleiben“, um Teil dieser sich entfaltenden Dynamik in Asien zu sein. Dies wird nicht ohne mutige regionale Investitionen und dezentraleren Strukturen gehen.
Weitsicht und Vorsicht sind bei einer technologischen Abkopplung geboten
Um einem technologischen „Decoupling“ die Stirn bieten zu können und nicht an den sich mit Sicherheit herausbildenden regionalen Standards für Produkte, Systeme und Lösungen „vorbei“ zu innovieren, solltenUnternehmen auch ihre Forschungs- und Entwicklungsbereiche diversifizieren und nach Möglichkeit verstärkt regional aufstellen. Hierzu bedarf es einer besonderen unternehmerischen Entschlossenheit und Vorsicht. Gerade vor dem Hintergrund regionaler Unterschiede in der rechtlichen Handhabung des Schutzes geistigen Eigentums, sind bei der technologischen Ausprägung des „Decoupling“ Chancen und Risken besonders sensibel abzuwägen.
Die Antwort auf Decoupling, Eindämmungs – und Abkopplungsversuchen der Politik, kann nur auf Unternehmensebene mehr regionale Verantwortung und Diversifikation bedeuten. Ein Rückzug ist für die europäische Wirtschaft auch forschungs- und entwicklungsseitig keine Option.
Einzelne Staaten wollen sich vom globalen Zahlungsverkehr abkoppeln
Einige Länder bereiten sich des Weiteren auf ein finanzielles „Decoupling“ vor. Sie beabsichtigen damit, sich unabhängiger von internationalen Finanz- und Kapitalmärkten westlicher Prägung und Dominanz aufzustellen. Dies umfasst auch Systeme zur operativen Zahlungsabwicklung.
Global agierende Unternehmen sind auf funktionierende und sichere Zahlungssysteme zur Abwicklung ihres internationalen Waren- und Güterverkehrs angewiesen. Damit global Zahlungen zwischen den einzelnen Wirtschaftssubjekten in unterschiedlichen Ländern abgewickelt werden können, ist es unerlässlich, dass die den Zahlungsverkehr tragenden Finanzinstitute miteinander verknüpft sind.
Entkoppelt sich diese Verknüpfung, müssen Unternehmen Strukturen schaffen, die es ihnen ermöglichen, weiterhin ihre Lieferanten und Mitarbeiter in den jeweiligen Ländern zu bezahlen bzw. das Geld ihrer Kunden einnehmen zu können. Auch hier ist unternehmerische Weitsicht gefragt.
Deutsche und europäische Global Player sind zudem sehr häufig zentral finanziert. Zukünftig wird es jedoch notwendig sein, auch die finanzwirtschaftliche Wertschöpfungskette von Unternehmen regional zu diversifizieren und dementsprechend stärker zu dezentralisieren. Ein erster Schritt wäre der Aufbau regionaler Treasury-Funktionen. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass alle drei Dimensionen des „Decoupling“ mehr Entrepreneurship erfordern, aber in jedem Fall zu deutlich höheren Kosten in Unternehmen führen.
„Decoupling richtet großen wirtschaftlichen Schaden an.“
„Decoupling“ nützt global betrachtet eigentlich keinem. Erst recht nicht den weltweit vernetzten deutschen und europäischen Unternehmen.
Trotzdem müssen sie sich darauf vorbereiten. Um so verwunderlicher ist es, dass die Europäische Union und Deutschland bisher keine echte Geo-Strategie entwickelt haben, aus der sich dann außenwirtschaftliche Leitplanken abbilden ließen. Leitplanken, die gerade global agierende Unternehmen mehr denn je brauchen.
Europas Symbol- und Sanktionspolitik ersetzt dabei keine Geostrategie. Da ist es aus Sicht vieler Unternehmen auch nicht strategie-ersetzend, wenn aus dem G7-Gipfel ein D10-Gipfel, ein Treffen von zehn Demokratien werden soll, zu dem auch Indien, Australien und Südkorea auf der Einladungsliste stehen und Joe Biden einen internationalen Summit of Democracies organisiert.
Es ist eine Illusion und geht an der Realität vorbei, zu glauben, dass die Welt sich bipolar organisieren ließe. Auf der einen Seite mit „werteorientierten“ Demokratien westlicher Prägung und auf der anderen Seite die Staaten mit anderen politischen Systemen. Die geo-politische Realität ist multipolar und ein komplexes Konstrukt unterschiedlicher Interessen und Machtverteilung. Es ist realitätsnäher, eine verantwortungsvolle Koexistenz der diversen politischen Systeme auf unserem Globus zu entwickeln. Die ökonomischen Verflechtungen sind jedenfalls so vielfältig, dass „Decoupling“ nur Schaden anrichtet und Wohlstand vernichtet.
„Decoupling“ kann ein gefährlicher geo-politischer Brandbeschleuniger sein
Um es deutlich zu betonen: „Decoupling“ ist eine Erfindung der politischen Eliten.
Die Wirtschaft steht diesen Aktivitäten überwiegend äußerst kritisch gegenüber, da sie zu ökonomischen Ineffizienzen führen und materielle sowie immaterielle Vermögenswerte zerstören. Die Unternehmen sehen sich leider dennoch gezwungen, ihre Strategien auf die unterschiedlichen Dimensionen des „Decoupling“ auszurichten.
Ausgrenzen, Sanktionieren und Abschotten sowie das Einreißen von Brücken hat in der Weltgeschichte noch nie einen Mehrwert generiert. Im Gegensatz hierzu erhöhen ökonomische Abhängigkeiten und Verflechtungen, gerade in geo-politischen Konfliktsituationen, die Kompromissbereitschaft und tragen damit potenziell zur Deeskalation bei.
Auch wenn es „altbacken“ klingt: „Wandel durch Handel“ ist das Gebot der Stunde und gerade in dieser Zeit zunehmender geopolitischer Spannungen keinesfalls outdated!
Oliver Hermes
Vorstandsvorsitzender & CEO der Wilo Gruppe
Vorsitzender des Kuratoriums der Wilo-Foundation