Die geoökonomische Zeitenwende: 30 Jahre Hyperglobalisierung sind passé!
Wenn Politiker in den heutigen Tagen von der „Zeitenwende“ sprechen, meinen sie in der Regel eine geopolitische oder eine historische Zeitenwende, die durch den Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 markiert wird.
Es gab vor diesem Datum auf der Welt schon mehr als genug Spannungen. Dass ein Konflikt aber eine solche Eskalationsstufe erreichen würde, wie in der Ukraine geschehen, konnten und wollten wir uns nicht vorstellen. Die Gewalt und das Leid, denen Menschen mitten in Europa und aber auch in anderen Teilen der Welt ausgesetzt sind, ist erschütternd und verdient all unser Mitgefühl und unsere Hilfe.
Schwierige Zeiten stellen also sicher geglaubte Gewissheiten in Frage. Wir erleben eine Phase, die von wachsenden internationalen Spannungen, von Abspaltung, Autarkiebestrebungen und von Protektionismus bis hin zu Krieg gekennzeichnet ist.
Als Folge der geopolitischen Zeitenwende sind wir auch Zeugen einer „geoökonomischen Zeitenwende“
Diese Entwicklung kann in vielen Aspekten auch als „Rolle rückwärts“ bezeichnet werden. Das Zurückrudern bei den Energiewenden, die Inflationswende in den reifen Märkten, die daraufhin eingeleitete geldpolitische Zinswende der Notenbanken sowie die damit verbundene immobilienwirtschaftliche Wende sind das Ergebnis des Handelns der politischen Akteure weltweit.
Außenwirtschaftlich bleibt zu allem Übel Folgendes festzuhalten: 30 Jahre Hyperglobalisierung sind ganz gewiss vorbei. Stattdessen treibt das Schreckgespenstdes „Decoupling“ nun auf allen Kontinenten sein Unwesen.
In all seinen Ausprägungen bedeutet „Decoupling“, dass multinationale Kooperationen stärker abnehmen, Allianzen bröckeln, wirtschaftliche Brücken zwischen Staaten und damit auch politisch unterschiedlichen Systemen bewusst und geopolitisch gewollt eingerissen werden.
Handelsbarrieren, extra-territoriale Sanktionen, Technologieembargos und eine aus politischen Gründen eingeleitete Entkopplung von Lieferketten haben vielfach deutlich unterschätzte negative Folgen für die Weltwirtschaft.
„Decoupling“ ist wohlgemerkt keine Erfindung der Wirtschaft, aber es gilt das Primat der Politik auch für Unternehmen. So soll eine Entkopplung von Märkten nach politischem Willen kritische Infrastrukturen in einzelnen Regionen schützen, die territoriale Souveränität garantieren und den Wohlstand sichern.
Hierbei wird häufig in der politischen Sphäre vergessen, dass es eine „end-to-end“ Unabhängigkeit von Volkswirtschaften mit komplexen Systemen nicht gibt und auch niemals geben kann. Gerade wenn es um die Versorgung mit Rohstoffen geht, kommt eine Importsubstitution in reifen Märkten und Regionen an ihre Grenzen. Wir können schlichtweg nicht alles national oder regional selbst machen. Multilaterale Strukturen und Prozesse sind und bleiben ein nicht wegzudenkendes Muss für effizientes und vernünftiges wirtschaftliches und soziales Handeln auf diesem Globus.
Das grassierende „Decoupling“ hat mindestens vier Ausprägungen
Die geographische Dimension beschreibt erstens die jeweiligen regionalen Auswirkungen aus Abschottung und Entkopplung.
Die technologische Dimension beinhaltet zweitens das Phänomen, dass in unterschiedlichen Märkten jeweils andere Standards für Produkte, Systeme und Lösungen gelten werden.
Die dritte Dimension stellt die finanzwirtschaftliche Entkopplung als Abbau der Abhängigkeiten von globalen Finanz- und Kapitalmärkten, Währungs- und Zahlungssystemen dar.
Die vierte Dimension beschreibt die globalen Auswirkungen einer Entkopplung auf die Versorgung der Menschen mit natürlichen Ressourcen.
Alle vier Dimensionen interagieren miteinander.
Mehr und mehr geraten Unternehmen zwischen die Fronten geopolitischer Auseinandersetzungen
Die globale Machtkonkurrenz zwischen den USA, Russland und China ist dabei der zentrale geostrategische Konflikt. Die dazwischen liegenden Staaten, die sogenannten „Sandwich-Staaten“ in Europa und der Pazifikregion, müssen ihre Chancen und Risiken in diesem Spannungsfeld neu ausloten. Dies gilt auch für die wirtschaftlichen Akteure.
Schaut man sich die von der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (Unctad) im Februar 2022 publizierten Handelsvolumina der einzelnen Welt-Regionen untereinander an, so stellt man fest, dass alle Kontinente wirtschaftlich sehr eng miteinander verflochten sind.
So stehen beispielsweise die Ukraine und Russland zusammen für etwa 30 Prozent aller weltweiten Weizenexporte. Eine Unterbrechung, Blockade oder Abkopplung dieser globalen Handelsverflechtungen wird in vielen Teilen der Welt zu Nahrungsmittelkrisen und Hungersnöten führen.
Ähnliche Abhängigkeiten der Weltgemeinschaft bestehen in Bezug auf Taiwan. Die Halbleiterindustrie Taiwans ist global als systemrelevant einzustufen. Etwa 77% der weltweit hergestellten Chips kommen hierher. Eine Ausweitung der Taiwan-Krise hätte je nach Ausprägung dramatische Auswirkungen und würden die ohnehin schon angeschlagene Weltwirtschaft endgültig ins Wanken bringen.
„Es ist unschwer erkennbar, dass eine Entflechtung globaler Handelsströme enorme Effizienzverluste und damit Wohlstandsverluste mit sich bringen würde.“
Diese Konsequenz ist vielen Menschen nicht bewusst. Beispielsweise nur noch 35 Prozent der deutschen Bevölkerung halten in 2022 gemäß einer Umfrage des Instituts Civey die Globalisierung für eine Chance. 61 Prozent sehen die Globalisierung eher als eine Gefahr. In 2017 war das Ergebnis der Umfrage noch genau umgekehrt, bei rund 60 Prozent der Befragten war die Globalisierung damals positiv konnotiert und nur 40 Prozent sahen in ihr ein Risiko.
Dieser Stimmungswandel ist eine äußerst bedenkliche Entwicklung, aber sie ist Bestandteil der geoökonomischen Zeitenwende. Dabei wird häufig außer Acht gelassen, dass das Geschäftsmodell der EU, vor allem das der Bundesrepublik Deutschland und damit unsere Arbeitsplätze und unser aller Wohlstand auf Globalisierung und Multilaterismus basieren.
Durch Deglobalisierung und „Decoupling“ werden Regionen und Länder vielleicht ein wenig souveräner und unabhängiger von anderen Staaten, aber sie werden auch in vielen Bereichen ineffizienter und das wirtschaftliche Agieren teurer. Die höheren Verbraucherpreise dafür zahlen die Bürgerinnen und Bürger mit einhergehenden Wohlstandsverlusten und allen auftretenden sozialen Risiken.
Auf der Unternehmensseite haben diejenigen Akteure am meisten zu verlieren, die in global funktionierende Wertschöpfungsketten eingebunden sind
Sie müssen sich jetzt neu sortieren. Es ist deutlich absehbar, dass die ohnehin durch die Pandemie fragilen und strapazierten Lieferketten durch das „Decoupling“ weiter durcheinandergewirbelt werden.
Einen Ausweg aus dem „Decoupling“-Dilemma für Unternehmen stellen daherintelligent gesteuerte regionale Investitionen oder eben Desinvestitionen dar. Hierzu sind von global agierenden Unternehmen die strategischen Handlungsalternativen in den wichtigsten Märkten neu zu beleuchten. Es gilt die Frage zu beantworten, welche gegenwärtige Stellung und zukünftigen Potentiale eine einzelne Region oder ein Land differenziert nach Beschaffungs- und Absatzmärktenfür ein Unternehmen hat.
In Bezug auf sich entkoppelnde Länder, in denen global aufgestellte Unternehmenrelativ wenig Markt- und Umsatzanteile haben und aus denen gleichzeitig wenig beschafft wird, sollte eine Desinvestition in Betracht gezogen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn aus den Geschäftsaktivitäten in einem dieser Länder dem Unternehmen Reputationsrisiken entstehen. Bestehen auf der Unternehmens-Beschaffungsseite zu sich entkoppelnden Ländernund Regionen Abhängigkeiten, dann sind Alternativen kurzfristig aufzubauen. Eine Diversifizierung der Bezugsquellen ist beschleunigt geboten.
Ein gutes Beispiel für eine im großen politischen Stil verpasste Diversifizierung der Bezugsquellen stellt in diesem Zusammenhang die Energiebeschaffung in Deutschland dar
Über Jahrzehnte wurde in Deutschland sehr gut und kosteneffizient von russischem Pipeline-Gas gelebt. Die energieintensive Industrie, die Wirtschaft insgesamt und die Verbraucher haben hiervon enorm profitiert. Unser Wohlstand resultiert teilweise aus diesem günstigen Energiebezug. Jedoch sind landesspezifische Abhängigkeiten zu Russland kontinuierlich durch weitreichende politische Entscheidungen über Jahrzehnte parteiübergreifend erhöht worden. Es wurde auf der einen Seite verpasst, ausreichend Beschaffungs-Kapazitäten aus alternativen Lieferländern zu strukturieren. Dies gilt insbesondere auch für den Bezug von Flüssiggas (LNG) und den Aufbau entsprechender Infrastrukturen. Auf der anderen Seite haben der beschlossene Ausstieg aus der Kernenergie und aus der Stein- und Braunkohle, aber auch die politische Entscheidung kein Schiefergas hierzulande zu fördern, Abhängigkeiten zu Russland potenziert. Viele Maßnahmen der politischen Akteure sind nun darauf ausgerichtet, diese selbst verursachten strategischen Fehler schnellstmöglich zu korrigieren.
Ist für ein Unternehmen lediglich der Absatzmarkt in einem sich entflechtenden Land von hoher Wichtigkeit und noch keine Produktionsstätte vorhanden, sind unter Umständen gezielte Investitionen in die Lokalisierung der Aktivitäten vorzunehmen.
Die Wertschöpfung vor Ort ist hierbei immer häufiger neu aufzubauen. Dieser Aufbau ist regelrecht geboten, um Märkte zu verteidigen oder ausbauen zu können. Ein sich entflechtendes Land wird immer auch versuchen, Importsubstitution zu betreiben, was zu Lasten exportorientierter Unternehmen gehen kann, die nicht lokal produzieren: Keine Wertschöpfung im Land, kein Zugang zum Markt.
Streben einzelne Regionen und Staaten ökonomische Souveränität beispielsweise in Bezug auf kritische Infrastrukturen an und ist sowohl der Beschaffungsmarkt als auch der Absatzmarkt von hoher Wichtigkeit für ein Unternehmen, so ist ggf. die eigene bereits vorhandene Wertschöpfungskette regional zu stärken. Es werden „local-for-local“ - also im sich entkoppelnden Land selbst - diejenigen Rohstoffe und Vorprodukte vor Ort beschafft, die zur lokalen Produktion und Befriedigung der landesspezifischen Marktbedürfnisse erforderlich sind. Dies schafft einen hohen Grad an Autonomie und eröffnet mehrere strategische Handlungsalternativen.
Im Falle eines weitreichenden politisch gewollten „Decoupling“ eines Landes vom Welthandel, kann die lokale Einheit weiterarbeiten und als Tochtergesellschaft funktionieren oder aber auch als Ganzes veräußert werden. Je höher die lokale Wertschöpfungstiefe im Falle einer Desinvestition ist, desto höhere Verkaufspreise können für die Tochtergesellschaft bei Veräußerung in der Regel realisiert werden.
Neben der güterwirtschaftlichen Betrachtung ist auch die finanzwirtschaftliche Dimension von Wichtigkeit. Es ist grundsätzlich sicherzustellen, dass erwirtschaftete Erlöse und erzielte Gewinne in das jeweilige Land der Muttergesellschaft transferiert werden können. Ist dies nicht der Fall und es existieren Dividenden-Transferbeschränkungen, sind Investitionen in einem sich entkoppelnden Land als hochriskant einzustufen.
„Decoupling ist ein gefährlicher geopolitischer Brandbeschleuniger.“
Bei der Betrachtung der Chancen und Risiken des „Decoupling“ wird klar, dass Ausgrenzen, Sanktionieren und Abschotten sowie das Einreißen von Brücken in der Weltgeschichte noch nie einen Mehrwert generiert haben. Sanktionen sind hierbei wissenschaftlich gesehen und im Kontext zu den beabsichtigten Verhaltensänderungen politischer Akteure nur begrenzt wirksam, bei Autokratien aus vielen Motiven zudem nicht effektiv. Häufig zementieren sie die existierenden politischen Herrschaftssysteme im sanktionierten Land und führen keinen „Regime-Change“, also keinen Wandel in den Machtstrukturen herbei.
Als unstrittig zu erachten ist jedoch, dass weitreichend umgesetzte multinationale Sanktionen, die beispielsweise durch ein Mandat der Vereinten Nationen legitimiert sind, wesentlich wirksamer als nationale oder regionale Alleingänge sind.
Fehlt es an einer solchen globalen Legitimation, verlieren die Volkswirtschaften sanktionierender Staaten und Regionen gegenüber denjenigen nicht-sanktionierender Staaten Marktanteile. Dieser Effekt ist gerade bei der Umsetzung und Betrachtung der Wirksamkeit der Russland-Sanktionen weltweit zu beobachten.
Die sanktionierenden Staaten schaden sich am Ende vielleicht selbst mehr als politisch vorhergesehen
Die Politik muss zusammen mit seinen Bürgerinnen und Bürgern abwägen, welchen hohen Preis ein Land für das Erlassen von Sanktionen gegenüber anderen Staatenbereit ist zu zahlen. Hierzu benötigen die Bürgerinnen und Bürger ein hohes Maß an Transparenz, gerade auch in Bezug auf ethisch-moralische Abwägungen und die sicherheits- und verteidigungspolitische Dimension, aber auch hinsichtlich derAuswirkungen auf den eigenen Job und das eigene Portemonnaie.
Als Fazit lässt sich festhalten: Im Gegensatz zum „Decoupling“ in all seinen Ausprägungen, erhöhen ökonomische Abhängigkeiten und Verflechtungen, gerade in geopolitischen Konfliktsituationen, die Kompromissbereitschaft und tragen potenziell zur Deeskalation bei.
Es ist eine Illusion und geht an der Realität vorbei, zu glauben, die Welt ließe sich bipolar organisieren oder in „gut“ und „böse“ einteilen. Auf der einen Seite mit „werteorientierten“ Demokratien westlicher Prägung und auf der anderen Seite die Staaten mit anderen politischen Systemen.
Es ist realitätsnäher, eine verantwortungsvolle Koexistenz der diversen politischen Systeme auf unserem Globus zu entwickeln. Multilaterismus statt „Decoupling“ ist das Gebot der Stunde.
Oder andersrum formuliert:
„Ist die Weltwirtschaft erst einmal - politisch gewollt - entlang der Macht- und Militärblöcke weitestgehend entkoppelt, wird die Führbarkeit von Kriegen erleichtert. Und auch das ist alles andere als erstrebenswert!“