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01.07.2020 CEO Standpunkt

Europa solidarisch denken – Die Industrie souverän in die Zukunft führen

Megatrends Corporate Political Responsibility Management

President & CEO of the Wilo Group President & CEO of the Wilo Group

Oliver Hermes ist Vorstandsvorsitzender und CEO der Wilo Gruppe, Vorsitzender des Kuratoriums der Wilo-Foundation, Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Familienunternehmen und Mitglied des Präsidiums des Nah- und Mittelost-Vereins e.V. (NUMOV). Er ist Essayist mit Beiträgen, die in unabhängigen Medien publiziert werden. Der Autor gibt seine eigene Meinung wieder.

Von den „Alten 1920er“ Jahren insbesondere nach 1924 geht in Europa immer noch eine bemerkenswerte Faszination aus. Man denkt in Deutschland unweigerlich an eine künstlerische Blütezeit, an den Rausch und das frivol-verwegene Nachtleben insbesondere in Berlin. Häufig wird der Begriff der „Goldenen Zwanziger“ verwendet. Eine ähnliche Terminologie findet man im angelsächsischen Raum mit den „Roaring Twenties“, bei den Italienern mit den „Anni Ruggenti“ und in Frankreich mit den „Années Folles“, was übersetzt so viel heißt wie die „Verrückten Jahre“.

Regelrecht „verrückt“ haben auch die „Neuen 20er“ schon in ihrem ersten Jahr und zwar mit einem Paukenschlag begonnen. Nicht nur Künstler müssen zu Hause bleiben. Gemeinschaftliche Partiesund ein ausgiebiges Nachtleben sind in einer Zeit des Social Distancing und teilweiser privater Isolation ausgeschlossen. Die Corona-Pandemie lässt Europa zittern und unser Kontinent steht vor einer Bewährungsprobe historischen Ausmaßes. Unfassbar viele Menschen in Europa verlieren ihr Leben, sind von Arbeitsplatz- und Wohlstandsverlust bedroht.

Unstrittig ist, dass die europäische Solidarität in Gesundheits- und zunehmend auch in Wirtschaftsfragen in der Coronakrise einem Lackmustest unterzogen wird. Jedoch stellt sich dabei die Frage von Solidarität und Souveränität innerhalb unserer Staatengemeinschaft nicht erst seit heute in Krisenzeiten. Auch die Frage einer kohärenten europäischen Industriestrategie blieb schon eine zu lange Zeit innerhalb der EU unzureichend beantwortet. Hier liegt nun die Chance in der Krise und Europas Stunde kann noch schlagen. Zunächst eine zeitliche Einordnung:

Die Industrie Europas vor Ausbruch der Corona-Pandemie

Einzelne Länder außerhalb Europas haben schon kurze Zeit vor Ausbruch der Pandemie nationale Industriestrategien verabschiedet und setzen sie konsequent um:

In den USA dominiert der „America-First-Ansatz“. Im Wesentlichen geht es der US-Regierung darum, die nationalen Unternehmen unterschiedlicher Zweige zu stärken und eine Re-Industrialisierung des Landes vorzunehmen.

Die chinesische Regierung hat einen klaren Plan, wie sie ihre eigene Industrielandschaft nach vorne bringen will. Hierzu hat sie eine „Made in China 2025“-Strategie formuliert und befindet sich inmitten ihrer Implementierung. Die chinesische Industriestrategie hat zehn Sektoren definiert, in denen chinesische Unternehmen zu globalen Champions gezüchtet werden sollen.

Auch Russland hat nicht zuletzt wegen der vor Jahren verhängten und immer noch gültigen Sanktionen eine klare Industriestrategie formuliert. Ziel ist es, die Abhängigkeit von den Rohstoffmärkten, insbesondere von Öl & Gas zu reduzieren. Es wird eine Diversifizierung der Industrie und Erhöhung der lokalen Wertschöpfung sowie eine Stärkung der Exportaktivitäten angestrebt.

Die Länder des Mittleren Ostens haben nationale Visionen entwickelt, in denen sich auch einleuchtende Ziele zur Stärkung industrieller Aktivitäten wiederfinden. Bei all diesen Ländervisionen geht es darum, die Abhängigkeit von Öl & Gas zu reduzieren und sich auf die „Neuen 2020er“ vorzubereiten. Wie in China´s Industriestrategie ist allen Ländervisionen Saudi-Arabiens, der Vereinigten Arabischen Emirate, des Omans, Kuwaits und Qatar gemein, dass sie klare Klimaschutzziele und Ziele für die digitale Transformation nennen.

Schauen wir jedoch auf unser Europa vor der Coronakrise und versuchen eine kohärente Industriestrategie der EU zu finden, so wird man bitterlich enttäuscht. Die EU war schon vor Ausbruch der Pandemie zu stark mit sich selbst, mit dem Brexit und dem aufkeimenden National?Populismus in einigen süd- und mitteleuropäischen Ländern beschäftigt. Aus dieser Position der Schwäche wurde die EU schon vor der Coronakrise in Sicherheits- und Verteidigungsfragen allenfalls als Junior-Partner der USA und in Wirtschaftsfragen als Junior-Partner Chinas wahrgenommen. Wir mussten in Europa dementsprechend schon vor Ausbruch der Pandemie aufpassen, dass die Welt in der neuen Dekade nicht in eine Bipolarität rutscht und die Spielregeln durch die USA und durch China gerade im digitalen Industrie-Zeitalter bestimmt werden.

Europas Industrie ist entscheidend zur Bewältigung der Coronakrise

Einige Wirtschaftsexperten stimmen jetzt in Krisenzeiten schon wieder den Abgesang auf die europäische Industrie und die „Old Economy“ an. Verwiesen wird auf den Aufstieg von Technologieriesen wie Amazon, Apple, den großen Streaming-Unternehmen, Microsoft mit seinen Cloud-Diensten und sicherlich den Gaming-Giganten wie Nintendo. All diese digitalen Unternehmen würden von der Coronakrise profitieren und ihre Geschäftsmodelle in märchenhafter Weise beflügelt. Negativ illustriert werden im Gegenzug die „shutdowns“ der klassischen europäischen Industrieunternehmen und ein entsprechender Kursverfall an den Börsen.

Es ist sicherlich richtig, dass wir inmitten der Coronakrise die digitale Welt des Streamings, des E-Sports und auch der digitalen Lehrmittel noch mehr entdecken und deutlich stärker als vorher E-Commerce und den Online-Handel nutzen. Richtig ist aber auch, dass die Coronakrise zeigt, dass Menschen in Europa ohne die zum großen Teil auch hier hergestellten Industrieprodukte nicht existieren können.

Es braucht medizinisches Equipment wie in Europa industriell produzierte Atemschutzgeräte und Laborausstattungen zum Überleben. Es sind die Industrieprodukte, welche die Aufrechterhaltung kritischer europäischer Infrastrukturen in den Sektoren Gesundheit, Energie & Wasser, Transport und Verkehr gewährleisten. Auch die Güter des digitalen Online-Handels müssen erst einmal industriell produziert und physisch vorhanden sein, um virtuell in Europa vertrieben werden zu können. Selbst das in diesen Tagen rare und begehrte Gut „Toilettenpapier“ ist ein Industrie-(Luxus)-Produkt.

Es ist meines Erachtens also wieder einmal falsch, die Abendsonne der Industriegesellschaften in Europa zu beobachten. Die Krise zeigt gerade, dass europäische Industrie- und Technologiekonzerne, einen wesentlichen Beitrag leisten, systemrelevante Sektoren am Laufen zu halten und somit fundamentaler Bestandteil kritischer Infrastrukturen in der EU sind. Es sind also auch Industrieunternehmen, die in Krisenzeiten das Überleben unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sicherstellen.

Die ersten Reaktionen im Rahmen der Coronakrise waren auf politischer Ebene in vielen Ländern der Welt zunächst reflexartig und nationalistisch. Es gab einseitige Grenzschließungen nicht nur innerhalb der EU, medizinische Güter und Schutzmaterialien wurden gebunkert und an eine systematische Patientenumverteilung zwischen Ländern war zunächst nicht zu denken.

In den letzten Wochen haben europaweit die Staats- und Regierungschefs in unterschiedlichen EU-Gremien unter Nutzung von Videokonferenzsystemen getagt. So langsam zeigt sich die doch eigentlich klare Erkenntnis, dass das Virus keine Grenzen kennt und ein erhebliches Maß an Abstimmung und supranationaler Solidarität in Europa notwendig ist, um die Pandemie einzudämmen.

So sehr Isolation im privaten Leben und Social Distancing derzeit das gesellschaftliche Umfeld in den Mitgliedstaaten prägen, so richtig ist das Gegenteil auf politischer Ebene. Es kommt jetzt in Europa darauf an, zu kooperieren und zu koordinieren.

Parallel zur Meisterung der Gesundheitskrise, ist es äußerst wichtig, den in Europa entstehenden ökonomischen Schaden zu minimieren, die Finanzstabilität zu bewahren und eine spätere wirtschaftliche Erholungsphase insbesondere auch im Industriesegment jetzt schon inmitten der Coronakrise sorgfältig und vor allem mutig, langfristig und vor allem zukunftsorientiert vorzubereiten.

Durch ein einheitliches und solidarisches Vorgehen in der Krise, sollte die Basis für ein in der Zukunft souveränes Europa mit einer starken Industrie im digitalen Zeitalter gelegt werden.

In der Vergangenheit und in Vor-Coronakrise-Zeiten Versäumtes könnte jetzt mit einem Turbo-Booster nachgeholt werden. Unternehmer suchen in der Krise immer auch nach Chancen. Das gleiche sollte für die europäische Politik gelten.

Die Zukunft der europäischen Industrie "Beyond the obvious"

Die Regierungschefs Europas haben in ihren bisherigen Videokonferenzen zur Bewältigung der Coronakrise das erst einmal „Notwendige“ entschieden. Es sind Nothilfen durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), die Schaffung eines europaweiten Instruments zur Finanzierung von Kurzarbeit (SURE) und die Unterstützung von Unternehmen durch die Europäische Investitionsbank (EIB) beschlossen worden.

Dies ist sicherlich ein wichtiger und richtiger Schritt. Die beschlossenen Maßnahmen werden auch den europäischen Industrieunternehmen mit ihren etwa 30 Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie deren Familien als Rückgrat der europäischen Wirtschaft zu Gute kommen. Aber die Maßnahmen reichen nicht aus. Sie sind lediglich ein Minimalschritt. Sie sind obvious und geben nur eine Antwort auf das Offensichtliche nämlich die akute und kurzfristige Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Krise. Sie haben bisher nur unzureichend weniglangfristige Zukunftsorientierung.

Es ist aber genau jetzt die richtige Zeit über das Offensichtliche hinaus beyond the obvious zu denken und den Kontinent nicht nur mit geeigneten Mitteln aus der Krise zu führen, sondern ihn gleichzeitig fit für die Zukunft und auch Versäumnisse der Vergangenheit wieder wett zu machen.

Es gilt also nun Europa nicht nur aus der Coronakrise hinaus, sondern in ein neues Zeitalter hinein zu führen. Insbesondere gilt es, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die europäischen Industrieunternehmen im digitalen Zeitalter global wettbewerbsfähig halten können.

Eine übergeordnete Geo-Strategie für die europäische Union ist unerlässlich

Die EU muss sich in Post-Krisen-Zeiten, in den „Neuen 2020ern“ durch aktives Handeln zu einem ebenbürtigen Partner auf der Weltbühne und nicht zu einem „Follower“ der USA und Chinas entwickeln. Dies gilt es jetzt endlich vorzubereiten, indem Maßnahmen zur Corona-Krisenbewältigung von ihrer Tragweite her größer gedacht werden.

Die EU muss im Zuge einer hoffentlich erfolgreichen und solidarischen Krisenbewältigung in der neuen Dekade selbstbewusster und vor allen Dingen souveräner werden.

Vor Ausbruch der Pandemie galt: An keinem Ort auf der Welt war die Lebenserwartung der Bürger so hoch, lebte man so behaglich, so gesund, so friedlich und war so vermögend und in keiner Region weltweit war der Wohlstand so breit gestreut wie in Europa. Im World Happiness Report 2019, der die Lebensqualität in einzelnen Ländern untersucht, landeten auf den sieben ersten Plätzen europäische Länder.

Es lohnt sich also entschlossen gemeinsam dafür zu kämpfen, dass diese Vorteile in Europas Zukunft für seine Mitbürgerinnen und Mitbürger auch weiterhin gewährleistet sind.

Hierfür ist zunächst festzuhalten, dass die Formulierung einer EU-Geostrategie unerlässlich ist und die „Mutter“ aller nachgelagerten Strategien, wie beispielsweise einer kohärenten Industriestrategie, abbildet.

Um europäische Stärken in der Zukunft deutlich besser global zu positionieren, ist es also dringend erforderlich, basierend auf einer EU-Geostrategie weitere sektorale bzw. funktionale Strategien zu entwickeln. Zu nennen sind eine europaweite Sicherheitsstrategie, aber eben auch eine Energie-, Klimaschutz- und Digitalisierungsstrategie mit allen Interdependenzen hinsichtlich einer neu zu definierenden europäischen Industriestrategie.

Gerade nach dem Brexit muss die EU ein starkes Signal setzen, dass geostrategisch die europäische Integration weitergeht. Im Rahmen der Formulierung einer Geostrategie sollte daher die Erweiterung der EU um bespielweise Länder des Westlichen Balkans zur Top-Priorität erklärt werden. Die Länder der Region sind integraler Bestandteil Europas und sollten so schnell wie möglich noch fester in seine politischen und wirtschaftlichen Strukturen integriert werden. Die europäische Industrie würde davon profitieren, da diese Länder als Absatz- und Beschaffungsmärkte von wachsendem Interesse sind.

Es ist zwar zu begrüßen, dass die EU inzwischen neue strategische Elemente für die Beziehungen mit Zentralasien und für eine bessere Konnektivität mit den östlichen Partnerländern erarbeitet hat. Solange die Strategien aber nicht mit einem Dialog mit der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) verbunden werden, sind ihre Erfolgsaussichten begrenzt. Wir brauchen im Interesse der europäischen Industrie endlich einen institutionalisierten Austausch zwischen beiden Kommissionen von EU und EAWU.

Es schlummern hier riesige Wirtschaftspotenziale, die derzeit nicht vollständig ausgeschöpft werden, da eine klare Geostrategie und die Klärung der Russlandfrage fehlt. Getrennt werden es weder die EU noch Russland schaffen, gegen die Aufteilung der Welt durch Chinesen und US-Amerikaner ein wirksames Gegenmittel zu entwickeln. Steht die EU-Geostrategie, sollte es zu einem ernsthaften Austausch über einen gemeinsamen Wirtschafts- und Industrieraum von Wladiwostok bis Lissabon kommen.

In jedem Fall ist klar, dass es zu kurz gegriffen ist, jetzt lediglich die Themen rund um die Pandemie?Bekämpfung und danach wieder den Klimaschutz vor allem zu stellen. Das Vertrauen in die europäischen Märkte darf nicht verloren gehen. Diese Gefahr besteht jedoch, wenn bei den bisherigen Maßnahmen nur die „Rettung“ oder der „Wiederaufbau“ und nicht auch eine strategische Zukunftsausrichtung Europas im Vordergrund steht.

„Rettung und Wiederaufbau sind offensichtlich und notwendig, sie sind obvious. Die geostrategische Zukunftsausrichtung Europas geht jedoch über das Offensichtliche hinaus.“

Oliver Hermes, Vorstandsvorsitzender und CEO der Wilo Gruppe

Der europäische "Wiederaufbaufonds" muss ein "Zukunftsfonds" sein

Bei der Ausgestaltung eines aus der Coronakrise geborenen EU-Wiederaufbaufonds ist dies ebenfalls zu berücksichtigen. Es muss ein Zukunftsfonds sein. Ein reiner „Wiederaufbaufonds“ wäre zu kurz gegriffen. Es sollte natürlich zunächst der Zweck und die Mittelverwendung zur Stützung der europäischen Volkswirtschaft und ganz besonders hart von der Pandemie betroffener Mitgliedsstaaten bestimmt werden.

Die Lieferketten innerhalb Europas sind hierbei so eng miteinander verzahnt wie in keinem anderen wirtschaftlichem Integrationsraum der Welt. Manche Wirtschaftsexperten sprechen von einer nur noch einzigen Wertschöpfungskette innerhalb der Europäischen Union. Es ist also offensichtlich und obvious, die Wertschöpfungskette Europas zu stabilisieren, so dass nicht einzelne Mitgliedsstaaten entweder als Kunde oder als Lieferant ausfallen. Aber es darf keinesfalls hierbei bleiben. Die Zukunftsausrichtung der europäischen Wirtschaft und seiner so wichtigen Industrieunternehmen kann nicht außer Acht gelassen werden. Es muss wieder einmal über das Offensichtliche und beyond the obvious gedacht werden.

Die digitale Transformation und der Klimawandel sind zu fokussieren

Der Fonds sollte also neben der „Rettung“ von Unternehmen vielmehr die Zukunftsthemen wie diedigitale Transformation und den Klimawandel in den Fokus stellen und Europas Nachholbedarf bei Forschung, Entwicklung und Bildung kompensieren. Deswegen ist meines Erachtens der Begriff „Wiederaufbaufonds“ oder „Recovery Fund“ schon falsch gewählt und eher reaktiv. Ein prospektiver Begriff wie „European Go-Ahead Fund“ wäre viel besser.

Im Rahmen der digitalen Transformation sollte sich die europäische Industrie nicht nur auf die Schaffung smarter Produkte, Systeme und Lösungen sowie den Bau digitaler Produktionsstätten konzentrieren. Das wäre erneut zu kurz gegriffen und obvious. Es ist mit einem regelrechten Geschwindigkeits-Beschleuniger die Digitalisierung der Vertriebs- und Marketingprozesse inklusive der Distributionsprozesse proaktiv und zukunftsorientiert zu betreiben. Es gilt wichtige Kunden nicht zu verlieren und neue hinzuzugewinnen.

Die Coronakrise zeigt ganz deutlich, dass jetzt im Gegenteil die Chance besteht, durch Digitalisierung die Kundenbindung und Loyalität europäischer Industriekunden zu erhöhen. In diesem Punkt haben uns bisher die USA und die Asiaten etwas voraus. Sie betrachten die digitale Transformation vom „Front-End“ also vom Kunden ausgehend. In Europa wird sie unter dem Label „Industrie 4.0“ oder „Industrie du Futur“ häufig vom „Back-End“ also von Beschaffungs- und Produktionsprozessen ausgehend gedacht und strukturiert.

Dies ist zu ändern und wird europäische Industrieunternehmen über alle Maße und beyond the obvious, also über das Offensichtliche hinausgehend, fordern. Ein Fonds für die europäische Wirtschaft und ihre Industrie sollte in dieser Hinsicht die Innovationskraft der Unternehmen stützen, so dass sie in der Lage sind, strategische Forschungs-und Entwicklungsprojekte, trotz corona-bedingter Konjunktureinbrüche weiter fort zu führen und die digitale Transformation in allen Funktionsbereichen zu beschleunigen.

Der Klimaschutz wird ein Top-Thema unserer Zeit bleiben

Wie man aus der Vor-Corona-Krisenzeit weiß, ist das Klima durch langfristige Entwicklungen stark negativ beeinflusst und bleibt damit auch in der Zukunft zurecht auf allen gesellschaftlichen Ebenen eines der TOP-Themen unserer Zeit. Dies wird auch nach Bewältigung der Pandemie für die nächsten Generationen so bleiben. Die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrer Wahlrede vor dem Europäischen Parlament angekündigt, dass Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent auf diesem Planeten werden soll. Das Ziel ist theoretisch schon einmal gut gesetzt.

Das Klima braucht nämlich Vorreiter und Pioniere. Es muss jetzt jemanden geben, der den Weg mutig erkundet und das kann sehr gut Europa sein. Ein zukunftsorientierter und aus der Coronakrise geborener Fonds sollte als Ziel die zeitnahe Klimaneutralität beinhalten. Es besteht in der Klimaschutzfrage eine Ziel-Konvergenz aus einer Rettung von zukunftsorientierten Industrieunternehmen auf der einen Seite und der Rettung des Klimas auf der anderen Seite.

Es gibt sehr viele europäische Industrieunternehmen, die eine klare und stringente Nachhaltigkeitsstrategie entwickelt haben. Kern einer großen Anzahl dieser Unternehmensstrategien ist es, mehr Menschen mit klimaschützenden Produkten, Technologien und Services zu versorgen bei gleichzeitig reduziertem ökologischen Fußabdruck. Europäische Industrieunternehmen können somit global betrachtet einen substantiellen Beitrag zum Schutz des Klimas durch Energie- und Ressourceneffizienz leisten.

Viele europäische Industrieunternehmen sind Klimaschutz-Unternehmen. Klimaschutz ist Bestandteil ihrer Geschäftsmodelle. Die Arbeit mit den kostbaren Ressourcen Wasser und Energie sowie der Umgang mit dem zu schützenden Klima setzen nachhaltiges Denken und Handeln voraus. Dies ist bei sehr vielen europäischen Industrieunternehmen fest in der Unternehmenskultur verankert.

Ein zukunftsorientierter Fonds zur Bewältigung der Pandemie sollte diese klimaschutzorientierten Unternehmen nicht nur retten, sondern ihnen die Möglichkeit geben, sich langfristig auf den globalen Märkten zu positionieren.

Nebenbei sei angemerkt, dass diejenigen Produkte, Systeme und Lösungen welche das Klima schützen, in der Regel auch diejenigen mit der höchsten digitalen Intelligenz sind. Das Ziel eines europäischen Zukunftsfonds sollte daher sein, die Komponenten „Klimaschutz“ und „Digitale Transformation“ zu vereinen und aufeinander abzustimmen.

Die Wertschöpfung innerhalb Europas ist zu erhöhen

Ein wichtiges Ziel eines europäischen Zukunftsfonds müsste des Weiteren darin bestehen, nicht nur die globale Verteilung von Wertschöpfung zu Gunsten der europäischen Mitgliedstaaten zu inzentiveren, sondern auch die jeweilige Wertschöpfungstiefe von Unternehmen innerhalb Europas zu intensivieren.

Von den gegenwärtigen Überlegungen, Lieferketten zu regionalisieren und strategisch wichtige Produktionsprozesse in Europa zu konzentrieren, könnten gerade die mittel- und osteuropäischen Länder profitieren, die bereits eng in die Wertschöpfungsketten europäischer Unternehmen integriert sind.

Die Coronakrise hat gezeigt, dass zu einem souveränen Europa auch gerade solche Industrieunternehmen gehören, die systemrelevant sind und die gleichzeitig kritische europäische Infrastrukturen in den Sektoren Gesundheit, Energie & Wasser, Transport und Verkehr bedienen.

Als Ergebnis der Coronakrise werden viele europäische Industrieunternehmen ihre Make-or-Buy?Strategien überarbeiten und im Zweifel zu Gunsten einer Risikominimierung und zu Lasten von Renditeanforderungen, kritische Komponenten zur Herstellung von Industriegütern eher selbst in Europa produzieren. Dies erfordert zusätzliche Kapazitäten und dementsprechend Investitionen.

Auch diesbezüglich sind von der EU über einen Zukunftsfonds entsprechende Investitionsanreize zu schaffen. Es gilt die Wertschöpfung zurück nach Europa zu holen und gleichzeitig die Wertschöpfungstiefe zu erweitern.

Die Ausgabe von Eurobonds ist eine logische Konsequenz

Ist die Geo-Strategie der Europäischen Union zunächst umrissen und definiert, sind die Ziele und der Zweck sowie die Mittelverwendung eines zukunftsorientierten europäischen „Go-Ahead-Fund“ determiniert, erst dann und nur dann stellt sich die Frage der Finanzierung.

Die Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie gekoppelt mit einer notwendigen Zukunftsorientierung Europas bei gleichzeitigem Aufholen des in der Vergangenheit Versäumten, stellt eine Herkules-Aufgabe für die Mitgliedstaaten der EU dar.

Diese Herkules-Aufgabe muss natürlich finanziert werden. Auch hier muss über das Offensichtliche hinaus also beyond the obvious gedacht werden. Die Ausgabe von Eurobonds darf daher kein Tabuthema insbesondere für die wohlhabenderen Volkswirtschaften innerhalb der EU mehr darstellen.

Wir alle müssen die zukunftsentscheidenden Herausforderungen für unseren Kontinent erkennen und diesbezüglich Verantwortung auch für kommende Generationen übernehmen. Das heißt im Umkehrschluss, dass die wohlhabenden nordeuropäischen Länder auch finanziell unmittelbar in die gemeinschaftliche Haftung für schwächere oder gar notleidende Mitgliedstaaten eintreten müssen. Gemeinschaftliche Probleme und Krisen erfordern gemeinschaftliche Lösungen.

Aber gerade wenn es jetzt auch darum gehen muss, eine gemeinschaftliche Zukunft zu garantieren sowie Maßnahmen und Mittelverwendung hierzu im gegenseitigem Einvernehmen zu bestimmen, dann ist auch eine gemeinschaftliche Finanzierung als logische Konsequenz von Nöten.

Viele nordeuropäische Staaten sind vergleichsweise wohlhabend und wirtschaftlich stark. Sie ziehen auf der einen Seite den wesentlichen Großteil ihrer Wirtschaftskraft aus Exporten von Endprodukten in teilweise nicht so leistungsstarke Mitgliedsstaaten der EU. Auf der anderen Seite sind sie teilweise stark abhängig von Zulieferprodukten aus den leistungsschwächeren Ländern.

Wenn also die nicht so wohlhabenden und wirtschaftlich nicht so potenten europäischen Länder in eine ökonomische Schieflage geraten, dann fallen diese als Kunden und auch als Lieferanten potentiell aus und es ist dementsprechend eine substantielle Anzahl von Jobs auch in den mit Exportüberschüssen gesegneten Ländern der EU in Gefahr.

Ungeachtet dessen, verdient die Europäische Union ihren Namen nicht, wenn sie Krisen mit primär nationalem Fokus bewältigt und die Mitgliedsstaaten nicht zusammenhalten und solidarisch füreinander einstehen.

Sie ist erst recht keine Einheit, wenn sie nicht versucht, zukünftigen Herausforderungen gemeinsam zu begegnen. Das gilt gerade auch für die resultierende finanzielle Dimension der Ausstattung eines bitterlich notwendigen zukunftsorientierten europäischen Fonds. Die gemeinsame Zukunft Europas muss also auch gemeinsam finanziert werden.

Die Staaten der europäischen Union sind eine Schicksalsgemeinschaft. Die gemeinsame Haftung ist realwirtschaftlich überhaupt nichts Neues, denn die Wertschöpfungsketten sind mehr oder weniger vereinheitlicht und höchst integrativ verwoben.

Gerät die Realwirtschaft krisenbedingt, wie jetzt durch die Corona-Pandemie, in einzelnen Mitgliedschaften in Seenot, wird schnell die sehr stark europäisch verflochtene Finanzwirtschaft in einzelnen Staaten der EU mit europäischer Gesamtwirkung in Mitleidenschaft gezogen. Dass dieser Mechanismus dann nur gemeinschaftlich innerhalb der EU gelöst werden kann, hat die Finanzkrise von 2008/2009 gezeigt. Es besteht also auch final und finanzwirtschaftlich bereits eine gemeinschaftliche Haftung. Auch die finanzielle gemeinschaftliche Haftung ist innerhalb der EU nichts Neues.

In den nordeuropäischen Ländern besteht häufig die Angst, dass die Einführung von Eurobondsihre jeweiligen Staatshaushalte wegen schlechterer Ratings durch höhere Zinsen belasten würden.

Um dies zu verhindern, kommt es darauf an, die Investoren im Rahmen der Ausgabe von Eurobonds davon zu überzeugen, dass die Strategie der EU richtig und zukunftsorientiert ist, sie Wachstum generiert und final in einer Reduktion der Verschuldung der Mitgliedstaaten mündet. Dann könnte auch ein potentiell risikoinduzierter Zinsanstieg im Zaum gehalten werden.

„Es kommt auf die Glaubwürdigkeit der EU an.“

Oliver Hermes, Vorstandsvorsitzender und CEO der Wilo Gruppe

Sie muss dokumentieren, dass sie krisenfest ist und gleichzeitig nicht nur robuste, sondern auch zukunftsorientierte und Wettbewerbsvorteile schaffende Geschäftsmodelle unterstützt. Hierzu ist die Etablierung eines Zukunftsfonds ein probates Mittel.

Die Finanzierung durch die Ausgabe von Eurobonds ist eine logische Konsequenz. Sie sollten in keinem Fall „Corona-Bonds“ heißen, sondern einen zukunftsträchtigen Namen tragen. In Anlehnung an einen „European Go-Ahead-Fund“ könnten sie auch unter dem Namen „European Go-Ahead-Bonds“ ausgegeben werden.

Strategische Prämissen sollten die Konditionalität abbilden

In der Mikroökonomie fordern bei der Ausgabe von Corporate Bonds, also Unternehmensanleihen, die Finanzinvestoren auf Ebene der begebenden Unternehmen in den meisten Fällen die Einhaltung von financial covenants, also von finanzwirtschaftlichen Kennzahlen.

Häufig wird von Wirtschaftsexperten auch für die Ausgabe von Eurobonds als gemeinsame Anleihen eine finanzielle Konditionalität gefordert. Das ist offensichtlich und obvious. Jens Weidmann, Präsident der deutschen Bundesbank zog beispielsweise metaphorisch einen Vergleich in das private Umfeld der Mitbürgerinnen und Mitbürger Europas, indem er sinngemäß postulierte, dass man ja auch nicht seine private Kreditkarte anderen Personen übergebe, deren Ausgabeverhalten man nicht kontrollieren könne. Hierbei wird jedoch verkannt, dass Ehepaare häufig eine sogenannte Twin-Card besitzen bzw. auch Partnerkarten an vertraute Personen herausgegeben werden.

Es kommt also in erster Linie auf das Vertrauen innerhalb der Europäischen Union an. Über den Tellerrand und beyond the obvious schauend ist es viel wichtiger strategische Prämissen als Konditionalität für die Ausgabe von Eurobonds zu setzen. Es sollten also strategic covenants eingezogen werden.

Nur wenn es den Mitgliedsstaaten der EU strategisch gelingt, Wachstumsperspektiven aufzuzeigen und zu realisieren, dann wird die Staatsverschuldung zurückgehen. Nach der Bewältigung der Corona-Pandemie ist nachhaltiges Wachstum für die jeweiligen Volkswirtschaften der EU also das Gebot der Stunde.

Das Fazit lautet: Wenn wir parallel zur Bewältigung der Krise innerhalb der EU eine Geostrategie formulieren, nachgelagerte sektorale bzw. funktionale Strategien entwickeln, einen europäischen Zukunftsfonds etablieren und diesen gemeinschaftlich und solidarisch finanzieren, dann stärken wir die europäische Wirtschaft und als Rückgrat ihre Industrieunternehmen.

Es kommt nun in hohem Masse auf Corporate Political Responsibility an

Wir sind verpflichtet, nicht nur die europäische Industrie, sondern mit ihr die Volkswirtschaften und deren Mitbürgerinnen und Mitbürger insgesamt in eine prosperierende Zukunft zu führen. In ein souveränes Europa.

Die Industrieunternehmen sind aufgefordert, nun auch politische Verantwortung für unseren Kontinent Europa zu übernehmen. Neben den klassischen drei „P“-Zielen „People, Planet, Profit“ ist es unerlässlich, die „Political Responsibility“ als vierte Dimension in die Umsetzung von Unternehmensstrategien zu integrieren.

Ihr

Oliver Hermes